Zertifikate allerorten

Lange wurde es in den Kreisen der Barrierefreiheits-Szene (mit unterschiedlichen Gefühlen) erwartet, jetzt ist es öffentlich: Das erste deutsche Zertifikat für Barrierefreie Websites. DIN Certo (gehört zum DIN) bietet ab sofort ein entsprechendes Zertifikat in drei Qualitätsstufen („Sterne“) an.

Und auch in der Schweiz gibt es seit neuestem ein entsprechendes Label – angeboten von der Stiftung Zugang für Alle unter dem Namen Zertifizierte barrierefreie Website.

Für wen sind die Zertifikate?

Beide Zertifikate richten sich aufgrund Ihrer Preisstruktur an größere Angebote. So werden beim Schweizer Label Gesamtkosten von 2.250 CHF (inkl. eines obligatorischen Re-Tests nach einem Jahr) angegeben – ein ausführlicher Bericht kostet noch einmal 1.300 CHF (insgesamt. 3.550 CHF also etwa 2.254 EUR). Ab dem dritten Jahr sind 1.350 CHF (pro Jahr) für die Nachprüfung fällig. Diese Preise gelten für eine „komplexe Website“ – es gibt noch eine billigere und eine teurere Variante des Tests. Weitere Informationen zum Schweizer Label gibt es beim Anbieter.

Das Deutsche DIN-Zertifikat ist eher noch teurer – ein konkreter Preis ist schwer zu ermitteln, da eine Reihe von Posten nach Aufwand berechnet werden. Für die Grundprüfung einer Site kommen aber schnell 80 – 150 Einheiten zu 38 EUR zusammen (3.500 – 6.000 EUR) – die jährlich zu entrichten sind, um das Zertifikat ausweisen zu können. Dabei habe ich angenommen, dass die nach Aufwand zu berechnenden Leistungen wie die Überprüfung der Barrierefreien Gestaltung oder die Vorprüfung zwischen 5 und 11 Einheiten abgehandelt sind (22 Einheiten entsprechen einem Tagessatz). Zusätzlich können bei Bedarf kostenpflichtige Vor-Ort-Audits beim Anbieter festgelegt werden. Immerhin ist der Prüfbericht im Preis inbegriffen.

Ein ganze Reihe von PDF-Dokumenten beschreibt das Testverfahren – leider ist der interessante zweite Teil zur Prüfung der Prozessqualität als „internes Dokument“ (noch?) nicht online. Weitere Informationen zum DIN-Zertifikat gibt es auch beim BIK-Projekt.

Recht aufschlussreich ist – neben der Gebührenordnung – die Werkzeugliste, die von den DIN-Testern verwendet werden soll. Es handelt sich zwar ausnahmslos um schon länger bekannte Werkzeuge, bietet aber einen guten Überblick für Neueinsteiger zum Selbst-Testen. Was mich in diesem Zusammenhang allerdings etwas irritiert, ist dass in der Werkzeugliste kein einziger Screenreader auftaucht – das Testverfahren wird doch hoffentlich nicht auf den Praxistest mit einem üblichen Screenreader verzichten?

Alternativen zum Zertifikat

Neben diesen beiden ausgesprochen offiziell daher kommenden Zertifikaten gibt es auch noch andere Anbieter, bei denen Tests (nur eben ohne das DIN-Label) zu bekommen sind. Schon seit langem ist das BIK-Projekt die Institution in Sachen Barrierefreiheits-Tests. Auch das DIN-Zertifikat stützt sich auf den BITV-Test, der im Rahmen des BIK-Projektes entwickelt wurde. Neben einem Fragebogen zur Selbsteinschätzung finden sich dort auch Angebote für kleinere Websites mit einem Basispreis ab 300 EUR. Bleibt zu hoffen, dass dieses nützliche Angebot nicht irgendwann dem größeren Bruder zum Opfer fällt…

Eine Reihe von auf Barrierefreiheit spezialisierten Agenturen bieten ebenfalls Tests an – der Barrierekompass als Dienst der Agentur anatom5 offeriert beispielsweise einen kostenlosen Barriere-Check (allerdings nicht für Webagenturen – diese müssen für den Barriere-Check Pro ein individuelles Angebot anfordern).

Was bringt nun ein solches Zertifikat – und wem?

Gut ist sicher der Ansatz, über ein transparentes Verfahren nicht nur die Qualität barrierefreier Websites zu sichern, sondern auch den Auftraggebern Sicherheit zu geben, ob die eingekauften Leistungen auch wirklich ihr Geld Wert sind. Gut ist auch der Ansatz, im Test die Prozessqualität zu bewerten und auch die Sicherung der Barrierefreieheit nach einiger Zeit zu überrpüfen.

Problematisch erscheinen mir vor allem drei Dinge:

  1. Stimmt die Qualität der Tests – sprich, sind die zertifizierten Sites wirklich barrierefrei?
  2. Stimmt das Preis-Leistungsverhältnis?
  3. Kann das Zertifizierungsverfahren mit der rasanten technischen Entwicklung mithalten?

Im ersten Punkt lässt sich das DIN-Verfahren aufgrund seiner Neuheit noch nicht beurteilen. Die im Zertifizierungsprogramm genannten Partner wie BIK oder das Institut für Informationsmanagement Bremen können jedoch viel Erfahrung und ein  breites Knowhow vorweisen.

Das Schweizer Label hat bereits zertifiziert – und an den präsentierten Sites entzündet sich auch schon eine heftige Diskussion – Ansgar Hein vom Barrierekompass übt in seinem Blog heftige Kritik an dem Verfahren, das löchrig wie ein Schweizer Käse sei. Auch in der WAI-Liste des Fraunhofer-Instituts wurde Kritik an den zertifizierten Webangeboten laut.

Bei den Kosten wird das Schweizer Label – mit ca. 2.500 EUR jährlich auch nicht wirklich ein Schnäppchen – von DIN-Zertifikat locker überholt. Bei einer angenommenen „Lebensdauer“ einer Website von vier Jahren bis zum Relaunch summieren sich die Ausgaben für die DIN-Plakette auf locker über 20.000 EUR und darüber hinaus. Das ist mehr, als die meisten Betreiber für die Barrierefreiheit insgesamt oder sogar für die komplette Website ausgeben. Hier sind wohl nur Großkonzerne oder Verwaltungen angesprochen – schade!

Fraglich ist, ob die Zertifikate mit der technischen Entwicklung im Web Schritt halten können. So wird in der Barrierefreiheits-Szene inzwischen kaum noch über die Zugänglichkeit normaler (X)HTML-Websites diskutiert – Themen wie AJAX oder barrierefreies Flash machen den Großteil neuerer Veröffentlichungen aus.

Dass das DIN-Zertifikat schon seit geraumer Zeit in der Diskussion ist und 2004 zum ersten Mal öffentlich angekündigt wurde, deutet schon darauf hin, dass die Prozesse dort eine Weile brauchen.

Es bleibt abzuwarten, wie die Anbieter den Spagat zwischen Aktualität und Zuverlässigkeit lösen.

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