Zum Deppen gemacht: von Diskussionkultur, kleinen Fürstentümern und Google+

Stellt Euch vor, Ihr besucht einen großen internationalen Kongress mit vielen einzelnen Vorträgen. Zu einem Beitrag habt ihr in der anschließenden Diskussionsrunde eine kritische Anmerkung, die ihr aber in höflichem Tonfall und ohne beleidigende Formulierungen vortragt. Statt Euch einer Antwort zu würdigen, nickt der Vortragende den Saaldienern kurz zu, die Euch dann ohne weiteres vor die Tür setzen. Von draußen hört ihr noch, wie der Vortragende den übrigen Anwesenden erklärt, er habe den Deppen entfernt da er nicht die notwendigen intellektuellen Fähigkeiten mitbringe, den Inhalt (seines) einfachen Vortrags zu verstehen. Solche Leute mögen sich bitte von seinen Vorträgen fernhalten.

In der atomaren Welt kaum vorstellbar oder würde zumindest als extrem unsouveränes Verhalten des Vortragenden und merkwürdiges Verständnis von Diskussionskultur interpretiert werden.

Online scheint das aber zu gehen – warum eigentlich?

Der konkrete Anlass:

Seit einiger Zeit habe ich Christian Sickendieck (fixmbr) auf Google+ eingekreist. Nicht, weil ich immer mit dem übereinstimme, was er schreibt (in der Regel tue ich das nicht oder zumindest nicht uneingeschränkt) sondern weil er pointiert schreibt und sich oft im Anschluss auch kontroverse Diskussionen ergeben.

Heute hatte er seine Meinung zur erfolglosen Bewerbung von Claudia Roth um eine grüne Spitzenkandidatur notiert und obwohl er eingangs seines Postings schreibt, dass Niederlagen zur Politik dazu gehörten, schließt er damit, dass Claudia Roth zurücktreten müsse, wenn sie „sich selbst treu“ bleiben will. Ich finde das nicht und der Artikel reiht sich meiner Meinung nach in eine Denkrichtung, die solche Wahlen vornehmlich als Machtkämpfe betrachtet. Mit dem Ergebnis, dass Parteien entweder keine echten Wahlen anstreben, sondern nur noch den/die Konsenskandidat(inn)en bestätigen oder zwangsläufig ihr Spitzenpersonal beschädigen.

Das habe ich so als Kommentar hinterlassen. Dabei habe ich mich abweichend, aber nicht unhöflich oder gar beleidigend ausgedrückt.

Kurze Zeit später hat Christian Sickendieck meinen Kommentar mit dem Hinweis gelöscht, er habe einen „Deppen-Kommentar“ gelöscht. Und wer nicht einmal „die kleine intellektuelle Fähigkeit mitbringt, den Inhalt einfacher Texte zu erfassen, möchte sich bitte aus meiner Timeline fern halten.“ Um sicher zu gehen, hat er mich auch gleich noch komplett blockiert, so dass ich den „Hinweis“ gar nicht direkt gesehen habe, geschweige denn dazu Stellung nehmen konnte.

Ich war durch die harsche Reaktion erst einmal etwas geschockt. Wir kennen uns nicht persönlich und selbst wenn ich seinen Text vollständig falsch gedeutet haben sollte, ist das ja eigentlich kein Grund, jemanden öffentlich als „Deppen“ zu titulieren und ihm grundlegende intellektuelle Fähigkeiten abzusprechen (zumal ich in meinem Kommentar nicht einmal behauptet habe, er hätte das so geschrieben, sondern, dass der Artikel sich in ein entsprechendes Interpretationsmuster einreiht. Darüber kann man ja durchaus streiten – wenn man kann).

Von Angesicht zu Angesicht ist so eine Reaktion kaum denkbar (wie gesagt, ich kenne Christian Sickendieck nicht persönlich) online aber offenbar schon. Liegt es an der Indirektheit (man muss dem Gegenüber nicht ins Gesicht sehen) und Folgenlosigkeit (was kann der Andere schon tun – insbesondere wenn man sich auf dem eigenen Terrain des eigenen Profils befindet) und Leichtigkeit (warum jemandem erklären, warum er falsch liege, wenn man ihn einfach ausblenden kann).

Es zeigt auch, warum Google+ keine „Community“, kein Forum für Diskussionen ist, sondern eher eine große Anzahl kleiner Reiche, in denen die jeweiligen Fürsten uneingeschränkt herrschen können (im Rahmen der von König Google verliehenen Privilegien, versteht sich). Unerwünschte Postings – gelöscht. Unliebsame Mitdiskutanden – geblockt.

In einem neutralen Forum gibt es die Moderatoren, die vergleichsweise neutral, Beiträge entfernen können, wenn diese stilistisch unangemessen oder inakzeptabel sind. In der Regel tun sie das auf Basis formulierter und nachvollziehbarer Regeln. Im Google+-Post hingegen ist der Schreiber auch gleich Moderator in eigener Sache und hat die Macht, alles und jede(n) zu löschen der/die/das ihm nicht passt.

Mit dieser Verantwortung auch fair umzugehen und damit das Klima einer Plattform zu gestalten ist jedem Einzelnen gegeben. Oder eben nicht.

Claudia Roth hat sich übrigens trotzdem entschieden, für den Parteivorsitz erneut zu kandidieren. Damit ist sie in der Achtung von Christian Sickendieck tief gefallen. Das geht allerdings sehr schnell, wie ich inzwischen weiss…

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